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nadine scheffner

Normalität

Mir begegnen beim Tätowieren oft Menschen, die mal am Rande erwähnen, dass es ihnen nicht so gut geht, aber sonst alles normal sei. Erst im tieferen Gespräch zeigt sich, dass es ihnen überhaupt nicht gut geht, vieles nicht so normal ist. Das sie die emotionalen Zustände ("mir geht es nicht gut... irgendwie raste ich oft aus... manchmal kann ich mich gar nicht bewegen... sobald ich zur Ruhe komme, fühlt sich das gar nicht gut an- ich muss immer was tun usw.") als gegeben hinnehmen und ihr Leid als normal akzeptieren. In der Bewusstwerdung dieser akzeptierten Normalität schauen mich dann große, fragende Augen an und der Körper fängt an zu reagieren, er zeigt, dass diese Normalität nicht so normal ist wie gedacht. Er fängt an zu zittern, die Augen werden feucht, der Blick schweift in die Leere, Unruhe kommt auf, der Bauch fängt an zu grummeln. Die Sprache des Körpers ist sehr vielfältig. Doch was ist normal, gemessen woran? Dieser Begriff ist sehr dehnbar und gefühlt gibt es ein breit gefächertes Verständnis von dem, was gängig als normal gilt. Natürlich gibt es Definitionen, ab wann ein Zustand einen pathologischen Wert hat, also als krank/ außerhalb der Norm gilt. Dieser Wert tritt offiziell dann ein, wenn der Zustand/die Störung Leid verursacht und/oder die Bewältigung des Alltages beeinträchtigt. Die Definition geht noch etwas weiter, ist für meinen Text hier aber nicht relevant. Sie sind in ihrem Alltag nicht eingeschränkt, sie haben nicht das Gefühl, dass es pathologischen Wert hat. Hat es nach der offiziellen Definition auch nicht. Aber sie leiden, ein erträgliches Leid, irgendwie halt normal. Sie haben sich damit arrangiert, ihre Partner, ihre Freunde, ihre Familien haben sich damit arrangiert. So wie sie sich mit deren Normalität arrangiert haben. Irgendwie ist es normal geworden. Und in diesem vertrautem Beisamen sein öffnen sie sich, erzählen von ihrem "normalen" Alltag, erzählen wie ihr Körper ihnen zeigt, dass das Normale gar nicht so normal ist. Sie berichten von Schlafstörungen, Verspannungen, Verdauungsprobleme, Essproblemen und Konsum. Davon, wie ihr System regelmäßig durch kleinste Trigger durchdreht, wie sie eine brachiale Unruhe überkommt, wie der Alltag sie auffrisst, wie die Bilder der Vergangenheit sie nächtlich heimsuchen, wie sie einfach nur noch funktionieren, wie sie Angst haben, wie sie überfordert sind. Ich höre zu, stelle manchmal Fragen, weise manchmal auf Zusammenhänge hin, mache manchmal aufmerksam. Bewusst werden braucht viel Einfühlungsvermögen, wie viel Information kann das System tragen, wann ist es zu viel, ich fühle achtsam hin. Wir decken kleine Stückchen auf, ich achte sehr genau auf die Reaktionen und schaue, was gerade gesehen werden will. Das bestimme nicht ich, das zeigt sich von alleine. Mir werden kleine Dinge der Normalität erzählt, ich frage nach, manchmal können wir tiefer in die kleinen Geschichten eintauchen, manchmal wird sanft geblockt. Dann biege ich ab, Vertrauen hat auch mit dem Respektieren von Grenzen zu tun. Ich lasse mich von meinem Gegenüber führen, gebe Raum zum Nachdenken und Wahrnehmen, Raum das Gesagte ankommen zu lassen. Oft sind es diese kleinen Denkanstöße, kleine Steine, die ins Rollen gebracht werden, kleine Samen, die gesät werden, die sich später in einer Veränderung zeigen, eine Veränderung von dem, was wir als normal empfinden. Und am Ende war es ein intensives Gespräch über die Normalität, über das, was wir als normal empfinden. Ein Gespräch, wie ich es schon unzählige Male beim Tätowieren hatte und was mich wieder mal dazu inspiriert, über das, was unsere Normalität zu sein scheint, zu sinnieren.




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